[index]->menschmaschinen


FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND INSIDE BUSINESS MONTAG, 25.FEBRUAR 2002 29

Sebastian Bitzer
Mit (hoffentlich) freundlicher Unterstützung von
FTD-Logo

Die Ankunft der Cyborgs

MIT-Professor Rodney Brooks sieht den Anbruch einer Ära von Mensch und Machine • Exklusiver Vorabdruck in der FTD

Einleitung
Körperoptimierung
Das menschliche Internet
Die Frage der Akzeptanz
Der mit dem Roboter schmust: Rodney Brooks
Datei als pdf

Von Rodney Brooks

Anfang der Seite

Ende 1999 ging ich eines Tages von meinem Büro im neunten Stock des KI-Laborgebäudes zum Fahrstuhl. Der Lastenaufzug aus dem Keller hielt an und die Türen öffneten sich. Heraus spazierte eine modifizierte Version von Hugh Herr. Hugh hat eine Halbtagsstelle als Assistenzprofessor an der Harvard Medical School und eine weitere als Forscher im KI-Labor des MIT. Als Hugh aus dem Fahrstuhl trat, lief es mir kalt den Rücken hinunter. Von den Oberschenkeln aufwärts war er ganz Mensch, von den Oberschenkeln abwärts dagegen ganz Roboter – und kein eleganter.
Er war ein Roboterprototyp. Statt Knochen hatte er Metallschäfte, Computerplatinen befanden sich dort, wo normalerweise die Muskeln gewesen wären, Batterien waren mit schwarzem Klebeband angeheftet, und Drähte hingen überall herunter. Also das war ein wirklicher Cyborg!
Hugh waren nach einem Unfall beide Beine amputiert worden, und man sieht, wie das seine Karriere geformt hat. In jüngster Zeit hat er mit der Arbeit an kultivierten Säugetiermuskeln begonnen, als Aktuatoren für kleine Roboter, mit dem Ziel, auf diese Weise letztendlich ein künstliches Bein zu bauen – mit biologischen Muskeln statt Elektromotoren.

Körperoptimierung

Anfang der Seite

Bald wird es viele Techniken zur Implantation von Elektronik und Metall in den menschlichen Körper geben, um verlorene Fähigkeiten auszugleichen. Natürlich wird man hier nicht Halt machen. Es wird eine ganz neue Art von Verbesserungen für den menschlichen Körper geben. Es werden zunächst medizinisch indizierte Ergänzungen des Körpers sein, aber bald wird der Druck unaufhaltsam zunehmen, diese Technologien auch zu anderen Zwecken einzusetzen.
Wie könnte es dazu kommen? Werden wir unsere Angst und sogar unseren Ekel überkommen, unsere Körper in Maschinen zu verwandeln?
Betrachten wir ein Szenario eines graduellen Wandels, der zu einer grundlegenden Umkehrung unserer Haltung führen wird. So wie künstliche Gehörschnecken heute fast schon Routine sind, wird es mit Netzhautimplantaten bei Menschen geschehen, die ihr Augenlicht durch Degeneration ihrer Retina verloren haben. Zuerst werden Menschen, die nach einem Unfall noch ein intaktes Auge haben, nicht für Implantate in Erwägung gezogen. Es wird ausreichend Nachfrage von Menschen mit zwei schlechten Augen geben, deren bevorzugte Behandlung moralisch geboten erscheint. Aber diese Behandlungen bringen eine Verbreitung dieser Technologie und Operationstechnik mit sich, die sie Routine werden lassen, und bald werden auch Einäugige davon profitieren.
Vielleicht möchten sie eine Siliziumnetzhaut, die für Nachtsicht optimiert ist. Wir können bereits Siliziumraster für Digitalkameras bauen, die bei Dunkelheit viele Male empfindlicher sind als das menschliche Auge. So könnte jemand, der ein gutes Auge hat und jahrelang mit einem blinden gelebt hat, beschließen, dass es wunderbar wäre, sich auch nachts so gut zurechtzufinden wie am Tag – was ein normaler Mensch nicht kann. Warum das nutzlose Auge nicht verbessern, um ihm diese Fähigkeit zu geben? Die Siliziumnetzhaut würde eine elektronische Auto-Iris benötigen, damit die Sehnerven tagsüber nicht mit Licht überflutet würden. Tatsächlich müssten sie bei frühen Modellen am Tag vermutlich schlicht ganz geschlossen bleiben. Aber das müsste unsere hypothetischen Patienten nicht beunruhigen: Ihr schlechtes Auge ist momentan sowohl bei Tag als auch bei Nacht nutzlos.
Eine klare Nachtsicht wäre für bestimmte Menschen, die allerdings zum größten Teil deswegen heimlich zum Arzt gehen müssten, eine sehr attraktive Fähigkeit: Soldaten, Drogenschmuggler, Terroristen.
Die verbesserte Nachtsicht wird so attraktiv werden, dass Menschen mit zwei absolut gesunden Augen bereit sein werden, eins dafür zu opfern. Ein gutes Auge zu modifizieren, um ihm übermenschliche Leistungskraft zu verleihen, wird für viele Menschen, Widerstandsbewegungen und Regierungen nicht so unerhört sein.
Menschen mit extremen Hobbys könnten eine Veränderung ihrer Augen ebenfalls nützlich finden und sich dafür entscheiden, wenn sie bezahlbar wird. Bergsteiger, Höhlenforscher, Extremläufer, Polar-Trekker und -Schlittenfahrer könnten alle Gefallen an der Idee finden, in der Dunkelheit sehen zu können. Es hätte sogar Vorteile für das nächtliche Autofahren. Die Straßenverkehrsbehörden bestehen darauf, dass wir beim Fahren Brillen oder Kontaktlinsen tragen, wenn wir eine Sehschwäche haben.
Nachtsicht ist nicht die einzige Option. Eine Verschiebung des Spektrums, innerhalb dessen wir sehen, wäre ebenfalls sehr nützlich. Ein wenig mehr in Richtung Infrarot, und wir könnten Wärmequellen weitaus besser wahrnehmen. Das wäre ideal für Suchund Rettungsteams oder sogar für Feuerwehrleute. Etwas mehr zum ultravioletten Bereich, und wir nähmen alle möglichen feinen Unterschiede wahr, die uns Auskunft über den Gesundheitszustand von Pflanzen geben – welcher Bauer möchte nicht mehr über seine Feldfrüchte wissen?
Und was wäre, wenn wir bewusst die Lichtempfindlichkeit unserer Augen ändern könnten, von Nachtsicht über Ultraviolett- und Infrarotsensibilität zurück zur normalen Sehfähigkeit? Alles, was wir dazu bräuchten, wäre eine Verbindung zwischen Neuronen und dem Schaltungskomplex, der in unsere zuvor normalen Augen implantiert wurde; und wir müssten noch das etwas vertrackte Problem lösen, wie diese Neuronen von der jeweiligen Person in einer intuitiven Weise bewusst kontrolliert werden könnten.

Das menschliche Internet

Anfang der Seite
Patrick Stewart als Borg-Drohne

Bisher sind Cyborgs – hier Patrick Stewart in einem "Star Trek"-Film – Ausgeburten von Science-Fiction-Fantasien.
In den nächsten zwei Jahrzehnten wird sich das nach Ansicht von Vordenker Rodney Brooks entscheidend ändern.

Das medizinische Motiv, Amputierten und Gelähmten die Kontrolle über externe Geräte zu geben, wird nicht nur den Weg zu einer Entwicklung öffnen, die uns veränderbare Augen bringt, sondern uns auch zu einem Teil des Internets machen.
Die gegenwärtigen Systeme, mit denen Gelähmte eine Computermaus bedienen können, werden es Menschen auch erlauben, die spektrale Sensibilität ihrer Augen zu kontrollieren. Diese Techniken funktionieren, indem man sich vorstellt, einen Körperteil zu bewegen, über den man keine direkte Kontrolle mehr hat. Die dazu erforderliche bewusste Anstrengung wird immer geringer, wenn das Gehirn im Lauf der Zeit sein internes Körperbild neu kartiert.
Wir alle kennen dieses Phänomen. Wenn wir anfangen, Auto zu fahren, ist der Wagen ein Ding, in dem wir sitzen und das wir zu kontrollieren versuchen. Manchmal kommt es uns vor, als hätte es seinen eigenen Willen, und wir tun uns schwer, ihm die richtigen Befehle zu geben. Bald wird es jedoch ein Teil von uns. Nach einer Weile fahren wir einfach auf den Parkplatz und haben ein Gefühl für die Ausmaße des Wagens, der praktisch zu einer Erweiterung unseres Körpers geworden ist. Es handelt sich nicht länger um "das Auto und wir", sondern um ein erweitertes "Wir mit einem Autokörper".
Es gibt andere Möglichkeiten, uns zu erweitern. Viele der Technologien, die unverzichtbare Teile unseres Lebens geworden sind, befinden sich außerhalb unserer Körper – sie sind die neuen Talismane, die wir täglich mit uns herumtragen.
Die auffälligsten sind die Handys. Wir sind von ihnen abhängig geworden, um mit unseren Familien und Büros zu kommunizieren. Aber nun werden wir auch für alle möglichen anderen Informationsdienstleistungen von ihnen abhängig, von der Wettervorhersage über Zugfahrpläne, Kinoprogramme, Stadtpläne, Börsenkurse bis hin zum Kauf kleiner und großer Dinge. Viele von uns haben auch einen persönlichen digitalen Assistenten, ein Notepad mit Terminkalender, privaten und geschäftlichen Kontakten, Notizen, Zeichnungen und Plänen. Dann gibt es da natürlich auch noch das Internet, jenen externen Informationsraum, der bereits das Leben vieler beherrscht. Wir sammeln und verschicken damit Informationen und senden und erhalten unzählige E-Mails. Wir sind fast ständig an den Computer auf unserem Schreibtisch gekettet oder kleben an unserem Laptop, um Zugang zu diesen Informationskanälen zu haben.
Was, wenn wir all diese externen Geräte nach innen verlegen könnten? Was wäre, wenn sie alle nur Teil unseres Geistes wären, so wie unsere Seh- und Hörfähigkeit? Ein Mensch mit einer gedankengesteuerten Maus kann durch bloßes Denken im Internet surfen, aber dieses Surfen bleibt über die Augen vermittelt. Nun könnte man die Maus mit einem implantierten Netzhaut-Chip kombinieren. Statt einer künstlichen Netzhaut als Kamera könnte sie ein Display sein, das mit dem Computer verbunden ist und den die Gedankenmaus kontrolliert.
Jetzt könnte man die Informationswege des Cyberspace in einem mentalen Kokon durchstreifen, aber dafür müsste man ein Auge opfern. Was wäre, wenn man die Signale des Displays nicht in die Netzhaut, sondern in den hinteren Teil des Gehirns einspeisen würde, in dem sich die bildverarbeitenden Regionen befinden? Wenn der Bildschirm ausgeschaltet wird, würde alles im visuellen System wie gewöhnlich arbeiten. Wird er eingeschaltet, würde die normale Wahrnehmung unterbrochen und der Bildschirm würde die normale Sicht ersetzen.
Natürlich könnte es sich herausstellen, dass es bessere Wege gibt, eine Schnittstelle zum Internet und ein Äquivalent unserer Notepads ins Innere unseres Kopfes zu verlegen. Statt all diese Information durch eine visuelle Repräsentation zu vermitteln, könnte es schließlich möglich werden, die Information viel direkter in unserem Geist erscheinen zu lassen. Wenn unsere externen Geräte chirurgisch in unser Gehirn implantiert werden, finden wir vielleicht einen Weg, um diesen Visualisierungsschritt zu umgehen und die Information direkt zu erhalten.
Herauszufinden, wie das gelingen könnte, wird eine beträchtliche Forschungsanstrengung erfordern. Der Markt wird jedoch dahin drängen. Anfänglich wird sich die Forschung gezwungen sehen, Blinden, deren Augenlicht unwiederbringlich verloren ist, Zugang zum Internet zu verschaffen. Das wird die Entwicklung eines direkten mentalen Zugangs zum Internet vorantreiben. Weil die gesunde Mehrheit nun nicht mehr ein intaktes Auge opfern muss, um einen solchen Zugang zu bekommen, werden wohl immer mehr Menschen darauf drängen, sich die neue Technologie implantieren zu lassen.
Sobald wir diese Technologie zum direkten mentalen Anzapfen des Internets beherrschen, wird eine ganze Reihe neuer Dienstleistungen entstehen. Genau so, wie sich Standard- HTML-Webseiten schlagartig vermehrten, könnte es in 20 Jahren sehr wohl eine Fülle von Anbietern "mentaler" Dienste geben. Man wird dann Informationen in die am leichtesten zu durchstöbernde Form packen, mit direkten neuralen Verbindungen statt einer optimierten visuellen Repräsentation.
Natürlich werden sich, sobald es solche Internetverbindungen gibt, alle Leistungen der Mobiltelefone und Notepads leicht in diese Infrastruktur eingliedern lassen. Wir werden in der Lage sein, mit jedem, der irgendwo auf der Welt die gleiche Technologie implantiert hat, gedanklich zu kommunizieren. Ob sich diese Form der Kommunikation eher wie textbasierte Sofortbotschaften oder wie eine Art vulkanischer Geistverschmelzung anfühlen wird, wird von den spezifischen Technologien abhängen, die sich entwickeln lassen.
Mit solchen Implantaten im Körper werden wir unvergleichlich mächtiger sein. So wie das gegenwärtige Web und die Mobiltelefone uns ermöglichen, mehr Dinge noch häufiger zu tun, so wird es mit dem mentalen Zugang zum Cyberspace sein. Wir werden in der Lage sein, das Licht im Keller per Gedanke auszuschalten, statt selbst die dunkle Treppe hinunterstolpern zu müssen; und wenn ein von außen nicht hörbarer Wecker in unserem Kopf klingelt, ohne den Schlaf unseres Ehepartners zu stören, können wir gedanklich die Kaffeemaschine in der Küche anschalten.
Selbst bei einem Treffen von Angesicht zu Angesicht könnten wir gleichzeitig einen separaten mentalen Kommunikationskanal mit einer bestimmten Person im Raum öffnen (vielleicht letztlich über das Funktelefonnetz), sodass wir eine private Nebendiskussion führen können.
Diese und viele andere noch unvorstellbare Fähigkeiten werden die Art verändern, wie Menschen interagieren. Wir werden in vieler Hinsicht Übermenschen sein. Und durch unsere gedankenvermittelten Verbindungen zum Cyberspace werden wir allein über unsere Gedanken unser Universum physisch kontrollieren. Die Telepräsenzroboter werden auf einen Gedanken hin unsere Wünsche erfüllen. Während wir vielleicht an einem bestimmten Ort physisch präsent sind, werden wir in der Lage sein, uns mental in ein Telepräsenzgerät und an einen anderen Ort zu projizieren, wenn wir dafür autorisiert sind. Alle, die diese Technologie nicht haben, werden sie bald haben wollen.
Anfänglich werden die Besitzer als verrückt angesehen werden. In unseren olympischen Sportarten erlauben wir den Sportlern nicht, ihre Leistung durch Drogen zu verbessern. Wir könnten Internetimplantate bei Studenten verbieten, die Prüfungen ablegen, da sie einen unfairen Vorteil hätten. Aber irgendwann würden wir genau wie im Fall der Taschenrechner erwarten, dass jeder Prüfling einen mentalen Internetanschluss hat. Was zunächst bizarr wirkt, wird wahrscheinlich bald zur Norm.

Die Frage der Akzeptanz

Anfang der Seite

Manche finden die Idee abstoßend, Technologie in ihren Körper implantieren zu lassen, während andere neugierig und sogar begierig sind, es auszuprobieren. Zunächst wird das sicherlich alles andere als eine persönliche Entscheidung sein, weil die soziale Akzeptanz dafür noch nicht vorhanden sein wird. Die Bereitschaft wird wohl von Land zu Land unterschiedlich sein und sogar innerhalb der verschiedenen Regionen eines einzelnen Landes.
Solche sozialen Beschränkungen sind nicht unveränderlich. Tatsächlich können sie sich innerhalb relativ kurzer Zeitabschnitte von ein oder zwei Jahrzehnten wandeln. Heute mögen viele sagen: "Ich will keinen dämlichen Mikrochip in meinem Kopf, keine Titanergänzungen für meine Knochen und keine Prothesen für meine Sinnesorgane." Es würde als unnatürlich empfunden. Das wären nicht mehr wir. Einige von uns werden sich trotzdem dafür entscheiden. Und unsere Kinder könnten schon etwas anders darüber denken, und ihre Kinder wiederum werden schließlich fast sicher eine andere Meinung haben.
Der Unterschied zwischen uns und den Robotern wird verschwinden.

Anfang der Seite

  Der mit dem Roboter schmust: Rodney Brooks
Rodey Brooks mit Roboter

Der Autor Rodney Brooks ist Direktor des Artificial Intelligence Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT), das in Cambrige am Rand von Boston angesiedelt ist.

Das Buch "Wie uns die Zukunftstechnologien neu erschaffen" lautet der Untertitel des Brooks-Buches "Menschmaschinen" (Campus Verlag). Es hat 280 Seiten und kostet 24,90 €. Es erscheint heute.

Das Buch "Menschmaschinen"